PROJEKT MEGALODON

Für die atlantischen Hochseehaie sind die Azoren Leuchttürme im Blau. Oder: in einem blauen Minenfeld aus Netzen und Langleinen. Mit dem Projekt „Megalodon“ werden ihre Wanderrouten erforscht, um ein regionales Haireservat zu schaffen – das erste seiner Art in Europa.


Nur der Schlauchbootskörper trennt die Biologen von einem dreieinhalb Meter langem Blauhai, der mit den meisten seiner schlank-grazilen Artgenossen nicht mehr viel gemein hat. Ein Muskelpaket wie aus alten Seefahrergeschichten. Silvio Ferreira und Dr. Jorge Fontes haben ihren Kandidaten. Ein gegenseitiges Kopfnicken später gleiten beide in die Wellen als Toreros im Dienst des Artenschutzes. Unter den Augen der Tauchgäste pirschen sich die Biologen im toten Winkel an das Rekordweibchen heran. Fünf Mal wittert das Tier den Menschen und dreht ab, und beim sechsten Versuch lässt die Berührung mit der Zange den „Schrecken der Meere“ blitzartig verschwinden. Vier kleinere Weibchen im Duftkorridor des Köders sind keine Wunschexemplare für einen mehrere tausend Euro teuren Satelliten-Sender, doch wird jedes Tier mit einer von zwei Laserpointern flankierten GoPro vermessen und immerhin zwei Haien werden per Lasso-Schlinge einfache Sender übergestülpt, die sich nach drei Tagen durch Korrosion von ihrem Wirt lösen, zur Oberfläche treiben und Datensätze liefern. Bis Ende Oktober wird das Team drei Monate auf See verbringen und 18 Tiere mit Satelliten-Sendern versehen haben – Hoffnungsträger, die über ein Jahr lang ihre genaue Position im Ozean, Schwimmtiefe und Temperatur verraten. Obwohl Mobula-Schwärme, Blau- und zunehmend auch Walhaie Taucher aus aller Welt anziehen und zum Wirtschaftsfaktor geworden sind, droht ihnen außerhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszone der Tod am Haken. Lange genug wurden in lokalen Häfen Haikörper im Akkord gelöscht. „Wenn du in der Industrie bist und schwache Jahre erlebst, bekommst du weiche Knie“, bestätigt Frank Wirth von Pico Sport. Um die erste und bis heute einzige wichtige Haitauch-Destination in europäischen Gewässern zu erhalten und damit auch sein eigenes Geschäft, hat er das Projekt Megalodon ins Leben gerufen, Forscher und Geldgeber an einen Tisch gebracht: „2019 war Jorge Fontes wegen seines lokalen Tagging-Projektes bei uns und daraufhin habe ich den Kontakt zur Stiftung ProWin ProNature hergestellt, die Spenden in Höhe von 150.000 Euro für 30 Satelliten-Sender und Tagging-Expeditionen bereitgestellt haben.“ Über die aufgezeichneten Wanderrouten sollen die bevorzugten Aufenthaltsorte der Haie identifiziert werden, GPS-Positionen und Forschungsberichte des Teams um Fontes sollen als Argumentationsgrundlage für Verhandlungen mit der regionalen Regierung dienen. Mittelfristiges Ziel ist ein Schutzstatus für solche Gebiete und ein Hai-Schutzgebiet innerhalb der 200-Meilen-Zone. Weil auf die EU-Länder aber ein Drittel aller weltweiten Haifleisch-Exporte entfällt, wird der Weg steinig. „Deshalb müssen wir ebenso an internationale NGOs wenden wie an die Abgeordneten der Azoren bei der EU“, bekräftigt Wirth. „Unser Anliegen geht auf direkten Konfrontationskurs mit der spanischen Hochseefischereiflotte.“ Und die nahm schon im Jahr 2000 mit 77.300 Tonnen die Position als Top-Lieferant für unverarbeitetes Haifleisch in Europa und Nummer zwei weltweit ein, 2016 waren es immer noch 53.300 Tonnen.

Als wichtigste Fürsprecher für die Haie sind die Tauchgäste beim Tagging in Sichtweite im Wasser mit dabei und kommen in den Genuss von Fachvorträgen, sofern sie ein „Megalodon-Package“ gebucht haben. Um den hohen Kostenaufwand für die Sender und deren Betrieb zu schultern, appelliert Wirth an Reiseveranstalter, Ausrüstungshersteller, Tauchschulen und -shops sowie Privatpersonen. Im Gegenzug erhalten die Unterstützer – möglich sind auch anteilige Spenden an einem Sender – je nach Größenordnung mindestens eine Adoptions-Urkunde, Bild, Factsheet zur Art, bis hin zu wöchentlichen Statusberichten, Videos und Online-Präsentationen und die Möglichkeit, ein Tier der persönlichen Wahl zu taufen. „Zwei der Walhaie sind im tropischen Westatlantik unterwegs und womöglich auf dem Weg in die Karibik und den Golf von Mexiko – von den 200 vor den Azoren identifizierten Tieren, hatten wir von dort bislang keine ,Matches‘, aber es wird spannend.“ Walhai „RTY20AZO“ war bis zum 9. Februar exakt 158 Tage lang auf Südwestkurs unterwegs – und das praktisch durchgängig in der Tiefsee, bis das Orinoco-Delta erreicht war. Ein Artgenosse, der am Kontinentalschelf vor Surinam kreuzte, hat ein ganz ähnliches Tauch- und Streckenprofil gewählt. Allerdings erst nach einer Futterpause im Sommerdomizil. „Wir haben nicht erwartet, dass sich die Walhaie bis in den Herbst herein vor den Azoren aufhalten“, berichtet Fontes. „Ebenso wenig, dass sowohl Walhaie so große Strecken in über 1000 Meter Tiefe wandern.“ Wenn es um die Blauhaie geht, klingt der Biologe nachdenklicher. Zu oft verlor sich die Spur nahe der Wasseroberfläche Ein symptomatisches Ende? „Es ist eine Herausforderung, solche wandernden Hochseebewohner zu schützen, weil es schwierig ist, vorauszusagen, welche Gebiete die wichtigsten sind. Die beste Strategie wären vermutlich saisonal wechselnde Meeresschutzgebiete, die sich am Lebenszyklus der Haie orientieren.“  Wenn ein solches Reservat die Fänge der Haie um vielleicht 20 Prozent reduzierte, so Fontes, würden sich mehr der erwachsenen Tiere, die von Juli bis September bei den Azoren vorkommen, reproduzieren. Dynamische Meeresschutzgebiete außerhalb der 200-Meilen-Zone könnten zu bestimmten Jahreszeiten im Gegenzug Kinderstuben schützen. Bereits jetzt kristallisiert sich heraus, dass die meisten Haie mit den sinkenden Wassertemperaturen südwärts einem Geflecht von Seebergen folgen, die Beutefischschwärme und Plankton-reiche Strömungen bieten. Dazu zählen die für seine Mobula-Schwärme weltbekannte Princess Alice Bank, das Azorenplateau und eine Perlschnur abgelegener Offshore-Seebänke bis hin zu den Seewarte-Seebergen und der Großen Meteorbank als größte ihrer Art im Nordatlantik.  Fast wäre es zu wünschen, dass Makos wie Blauhaie an den Köderplätzen der Haitaucher nahe Pico verbleiben, was Fontes Studien allerdings widerlegt haben. Im Bereich der Seeberge 300 Kilometer südlich der Ausschließlichen Wirtschaftszone kämpfen internationale Fangflotten tagtäglich um die marinen Ressourcen. Und welche Nomaden haben sich schon je an Grenzen gehalten.



Unser Autor: 
Daniel Brinckmann
Reisejournalist und
Seminarleiter UW-Fotografie


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